Mathematik von Anfang an verstehen : DatumAural
Mathematik ist nicht nur ein Hauptfach in der Schule, mathematische Basiskompetenzen sind auch im Alltag und im Beruf zentral. Was hilft Schülerinnen und Schülern beim Erlernen? Wissenschaftlerin Raja Herold-Blasius und Lehrkraft und Fachberaterin Uta Krüger geben Einblicke dazu, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse es gibt und wie diese in der Praxis umgesetzt werden können.
Frau Herold-Blasius, was müssen wir uns unter Basiskompetenzen in Mathematik in der Grundschule vorstellen?
Herold-Blasius: In Mathematik baut das Lernen so stark aufeinander auf, wie in keinem anderen Schulfach. Das heißt, wenn ich in der ersten und zweiten Klasse etwas nicht verstanden habe, wird das Auswirkungen haben auf mein weiteres mathematisches Lernen. Die Basiskompetenzen sind die Kompetenzen, die wir brauchen, um weiterführend Mathematik lernen zu können. Damit meinen wir vor allem das Verständnis für Zahlen, für den Stellenwert und für die Rechenoperationen. Ich kann zum Beispiel keine Preise vergleichen, wenn ich keine Vorstellung von Zahlen und ihrer Größe habe. Dafür muss ich auch verstehen, was die Stellung einer Ziffer in einer mehrstelligen Zahl bedeutet. Zum Beispiel steht die 5 in 52 für fünf „Zehner“, aber in 25 für fünf „Einer“. Das nennen wir den Stellenwert. Erst, wenn ich diesen Zusammenhang verstehe, kann ich mir größere Zahlen, Bruchzahlen und andere Zahlenräume erschließen. Wenn ich das in der Grundschule nicht lernen konnte, dann wird sich das auch in der weiterführenden Schule immer wieder zeigen.
Wie beurteilen Sie die Lage im Fach Mathematik an Grundschulen insgesamt und an den "Schule macht stark"-Schulen im Besonderen?
Herold-Blasius: Die aktuellen Vergleichsstudien, wie TIMSS oder der IQB Bildungstrend, zeigen uns, dass ein Viertel der Schülerinnen und Schüler die Mindeststandards im Fach Mathematik derzeit nicht erreichen. Das sind ziemlich viele Kinder, die die genannten Basiskompetenzen nicht haben und die in Mathematik auch in der weiterführenden Schule entsprechende Ergebnisse erzielen werden. Die Zahlen sind in der achten Klasse sogar noch höher als die Zahlen in den Grundschulen: Da liegt der Anteil derjenigen, die die Mindeststandards nicht erreichen, bei 33 Prozent.
„Viele Kollegien starten unter wirklich sehr anspruchsvollen Ausgangsbedingungen. Aber wenn sie gemeinsam ein Ziel verfolgen, sind sie beeindruckend stark und können sehr viel bewegen.“
Dr. Raja Herold-Blasius, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
In sozial herausfordernder Lage sehen sich die Schulen oft mit einer Vielzahl an Hürden konfrontiert: zu wenig Lehrkräfte, Kinder, die bei der Einschulung nicht auf ihren Plätzen bleiben und die Stifte nicht richtig halten können, deren Konzentrationsspannen ganz kurz sind. Viele bringen wenig Vorwissen mit und müssen erst mal lernen, überhaupt lernen zu können. Manche verstehen auch noch kein Deutsch. Das alles führt dazu, dass diese Schulen im Vergleich zu anderen Schulen wenigstens ein halbes Jahr im Verzug sind. Diesen Rückstand aufzuholen, ist schier unmöglich und spiegelt sich später eben auch in den internationalen Studien wider.
Frau Krüger, können Sie uns ein Beispiel geben, was konkret diese Schülerinnen und Schüler erst erlernen müssen?
Krüger: Mir als Fachberaterin berichten Lehrkräfte oft, dass viele Kinder bereits Schwierigkeiten mit dem Zählen haben. Wir würden erwarten, dass Kinder, wenn sie eingeschult werden, ungefähr bis zehn vorwärts und rückwärts zählen können und dass sie Anzahlen bis vier erfassen können: Das sind vier Äpfel. Viele sind noch nicht auf diesem Stand und dann können wir darauf nicht aufbauen. Oft wissen wir nicht, ob die Kinder nicht zählen können oder ob sie es nur auf Deutsch nicht können.
„Viele Lehrkräfte bringen wunderbare Unterrichtsbeispiele zu unseren Fachnetzwerktreffen mit. Diesen kollegialen Austausch empfinden die Lehrerinnen und Lehrer als besonders gewinnbringend.“
Uta Krüger, Lehrkraft und Fachberaterin
Die Zahlwortbildung im Deutschen ist übrigens durchaus komplex: Zweistellige Zahlen werden im Deutschen in umgekehrter Reihenfolge gesprochen: eben nicht „zehn-und-drei“ oder „zwanzig-und-eins“ wie in vielen anderen Sprachen. Wenn Kinder „zwanzig-und-eins“ sagen, ist das im Deutschen falsch, und diese Kinder schreiben Zahlen, die sie hören, dann oft auch verkehrt herum: Wenn sie „einundzwanzig“ hören, schreiben sie „12“. Wir haben dann Schwierigkeiten zu erkennen, ob sie das mit dem Stellenwert nicht verstanden haben, ob sie die Zahlwortreihe nicht richtig beherrschen oder ob sie eigentlich zählen können, aber es so machen, wie man es in ihrer Muttersprache machen würde. Die Kinder müssen eine doppelte kognitive Leistung erbringen und die Lehrkräfte dementsprechend gut auf diese anspruchsvolle Aufgabe vorbereitet werden.
Frau Herold-Blasius, was bietet der Forschungsverbund den an „Schule macht stark“ beteiligten Schulen und ihren Lehrkräften als Unterstützung an?
Herold-Blasius: Wir begleiten die teilnehmenden Lehrkräfte dieser Schulen über ein komplettes Schuljahr. Unsere Fachberaterinnen und Fachberater organisieren regelmäßig stattfindende Fachnetzwerktreffen. Dort geben sie gezielten fachlichen Input zu unseren eigens für „Schule macht stark“ entwickelten Materialien für den Unterricht. Außerdem bieten sie dort viel Raum für kollegialen Austausch und Feedback. Die Materialien werden jeweils nach ihrer Erprobung an den Schulen gemeinsam mit den Lehrkräften evaluiert und dann von Seiten der Universität auf Basis dieser Rückmeldungen angepasst und weiterentwickelt – also ko-konstruktiv.
Wie können wir uns das mit den Materialien konkret vorstellen?
Herold-Blasius: Wir wissen, wie belastet die Lehrerinnen und Lehrer an den beteiligten Schulen sind. Deshalb bekommen sie von uns vorbereitete Unterrichtsmaterialien, die sie so direkt am nächsten Tag im Unterricht einsetzen können. Diese Pakete enthalten jeweils auch bereits Adaptionen und Differenzierungsangebote. Bei den Treffen erhalten sie passgenau den fachdidaktischen Hintergrund, den sie brauchen, um die jeweiligen Materialien mit größtmöglicher Wirkung verwenden zu können. Die Fachberaterinnen und Fachberater sensibilisieren die Lehrkräfte dafür, was jeweils die Grundlagen sind, um die entsprechenden Zusammenhänge zu verstehen.
Nennen wir ein Beispiel: Wir haben ein „Starterpaket zum Schulbeginn“ entwickelt, mit dem die Lehrkräfte erfassen können, auf welchem Stand die einzelnen Kinder mit Blick auf ihre mathematischen Basiskompetenzen sind, beispielsweise in Bezug auf das Zählen und in Bezug auf ihr Zahlverständnis. Anhand dieser Diagnose können die Kinder anschließend gezielt gefördert werden. Viele Lehrkräfte hatten uns berichtet, dass gerade in der ohnehin besonders anspruchsvollen Eingangsphase der ersten Klasse diese Diagnose oft zu kurz gekommen ist. Unser Paket bietet hier ressourcenschonend und lösungsorientiert Abhilfe. Auch für die Jahrgangsstufen zwei, drei und vier bieten wir ähnliche Pakete zum Schuljahresstart mit Standortbestimmungen an.
Frau Krüger, wie geht es bei den Fachnetzwerktreffen dann weiter?
Krüger: Die Lehrkräfte berichten von ihren Erfahrungen bei der Praxiserprobung. Sie stellen vor, wie sie bestimmte Dinge umgesetzt haben, tauschen sich untereinander aus und geben uns Anregungen, wie wir die Materialien anpassen oder weiterentwickeln können. So können wir von der Expertise der Lehrkräfte profitieren. Viele Lehrkräfte bringen wunderbare Unterrichtsbeispiele zu unseren Fachnetzwerktreffen mit. Diesen kollegialen Austausch empfinden auch die Lehrerinnen und Lehrer als besonders gewinnbringend.
Dem Lauf des Schuljahres folgend stellen wir Materialpakete zu weiteren Themen zur Verfügung und geben den passenden fachlichen Input. Zum Beispiel dient ein Wimmelbild von einem Schulfest mit einzelnen Bildausschnitten passend zu Addition und Subtraktion dazu, eine Vorstellung von plus und minus zu entwickeln. Hierbei sensibilisieren wir unsere Teilnehmenden dafür, eine einfache, eindeutige Sprache zu verwenden: „dazu“ und „weg“ bzw. „dazugeben“ und „wegnehmen“. Das im Matheunterricht üblicherweise verwendete „abziehen“ hat im Unterschied zu „wegnehmen“ auch viele andere Bedeutungen. Mit der eindeutigen Sprache unterstützen wir, dass die Kinder ein wirkliches Verständnis für diese grundlegenden Aufgaben entwickeln.
Profitieren denn auch die Kolleginnen und Kollegen der teilnehmenden Lehrkräfte?
Krüger: Unser Ziel ist, zu erreichen, dass unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Materialien und ihre Erfahrungen in das Kollegium ihrer Schule hineintragen, so dass diese möglichst allen Kindern an der Schule zugutekommen. Unser Modul „Zahlen unter der Lupe“ beispielsweise lässt sich sehr gut in den Fachkonferenzen vorstellen, da es in alle Jahrgangsstufen der Grundschule eingesetzt werden kann und insofern für alle Kolleginnen und Kollegen relevant ist.
Bei „Zahlen unter der Lupe“ kann man sehr schön die Vernetzung der verschiedenen Darstellungen der Zahlen sehen. Diese ist grundlegend, damit die Kinder ein Verständnis davon entwickeln können, wie eine Zahl dargestellt werden kann: beispielsweise durch ein Wort, durch eine geschriebene Zahl, durch eine Anzahl von Gegenständen, durch Punkte in einem Zehnerfeld oder auf einem Würfel.
Frau Herold-Blasius, wie wird erreicht, dass die neuen Erkenntnisse und die Materialpakete an den Schulen präsent bleiben?
Herold-Blasius: Viele Schulen haben inzwischen digitale Ablagen oder Pinnwände, auf denen sie Unterrichtsvorhaben ablegen. Oft unterstützen die Schulleitungen die Förderung der Basiskompetenzen, indem sie die entsprechenden Elemente beispielsweise ins Schulcurriculum aufnehmen und Zeitfenster für die Arbeit mit den Materialien fest einplanen. Viele Kollegien starten unter wirklich sehr anspruchsvollen Ausgangsbedingungen. Aber wenn sie gemeinsam ein Ziel verfolgen, sind sie beeindruckend stark und können sehr viel bewegen.
„Wir wissen, wie belastet die Lehrerinnen und Lehrer an den beteiligten Schulen sind. Deshalb bekommen sie von uns vorbereitete Unterrichtsmaterialien, die sie so direkt am nächsten Tag im Unterricht einsetzen können.“
Dr. Raja Herold-Blasius, Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Und wie geht es insgesamt in den nächsten Jahren weiter?
Herold-Blasius: Über unsere stetig weiterentwickelten, gut verzahnten Materialen und die lange, intensive Zusammenarbeit mit den Schulen mit dem Fokus auf Verstetigung und Transfer ins Kollegium sind die Erfolge von „Schule macht stark“ bereits sehr gut in den teilnehmenden Schulen verankert.
Außerdem geht das entwickelte Material in das „Startchancen-Programm“ ein, das mit noch viel mehr Schulen im Sommer 2024 gestartet ist. Wir sind sehr froh, dass unser Material, in dem sehr viel Arbeit und Herzblut von uns und den beteiligten Lehrkräften steckt, dort weiteren Schulen zugutekommt. Auch wünschen wir uns, dass viele Fachberaterinnen und Fachberater, die in „Schule macht stark“ mitgearbeitet haben, mit den neuen Schulen in diesem Programm arbeiten, so dass noch mehr Kinder bessere Chancen haben, die mathematischen Grundlagen so zu verstehen, dass sie in ihrer kompletten Schullaufbahn darauf aufbauen können.
Frau Krüger, Frau Herold-Blasius, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Kurzvitae
- Dr. Raja Herold-Blasius
Raja Herold-Blasius ist die Koordinatorin des Schwerpunkts Mathematik (Primarstufe) des Inhaltsclusters „Unterrichtsentwicklung Deutsch und Mathematik“ der Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark“. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Dortmund, Fakultät für Mathematik. Sie ist ausgebildet als Lehrerin für das bilinguale Unterrichten an Grund-, Haupt- und Werkrealschulen.
- Uta Krüger
Uta Krüger arbeitet seit September 2022 als Fachberaterin für Mathematik für das Schulamt der Stadt Köln mit Grundschulen, die an der Bund-Länder-Initiative „Schule macht stark“ teilnehmen. Seit August 2023 ist sie als abgeordnete Lehrkraft an der Technischen Universität Dortmund, Fakultät für Mathematik, tätig. Zuvor hat sie als Konrektorin an einer Grundschule in Köln gearbeitet.